Herbst Lebensabend von Friedrich Rückert

Herbst Lebensabend

Du, dieses Jahres Abend, Herbst,
Sei meines Lebensabends Bild!
Wie langsam du den Hain entfärbst,
Und deine Sonn‘ ist frühlingsmild:
Es lacht das grünende Gefild‘
Tief im Oktober ohne Frost,
Und in der Traube schwillt der Most,
Wie in der Brust Begeist’rung schwillt.

Friedrich Rückert (1788 – 1866), alias Freimund Raimar, deutscher Dichter, Lyriker und Übersetzer arabischer, hebräischer, indischer und chinesischer Dichtung

Schöne Junitage

Schöne Junitage

Mitternacht, die Gärten lauschen,
Flüsterwort und Liebeskuß,
Bis der letzte Klang verklungen,
Weil nun alles schlafen muß –
Flußüberwärts singt eine Nachtigall.

Sonnengrüner Rosengarten,
Sonnenweiße Stromesflut,
Sonnenstiller Morgenfriede,
Der auf Baum und Beeten ruht –
Flußüberwärts singt eine Nachtigall.

Straßentreiben, fern, verworren,
Reicher Mann und Bettelkind,
Myrtenkränze, Leichenzüge,
Tausendfältig Leben rinnt –
Flußüberwärts singt eine Nachtigall.

Langsam graut der Abend nieder,
Milde wird die harte Welt,
Und das Herz macht seinen Frieden,
Und zum Kinde wird der Held –
Flußüberwärts singt eine Nachtigall.

Detlev von Liliencron
(1844-1909)